Wilhelm Blume

Brief an Paul Wandel, Direktor des Amtes für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone (Berlin), vom 29.10.1945

Quelle: Privatsammlung Heinrich Scheel
Veröffentlichung: Marburg 1999: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1999/0001/q60.html - Zuvor in: Wilhelm Blume zum 100. Geburtstag (=Neue Scharfenberg-Hefte, 6), Berlin 1984, S. 37-39.
Literatur: Haubfleisch, Dietmar: Schulfarm Insel Scharfenberg. Mikroanalyse der reformpädagogischen Unterrichts- und Erziehungsrealität einer demokratischen Versuchsschule im Berlin der Weimarer Republik (=Studien zur Bildungsreform, 39), Frankfurt [u.a.] 2001, bes. S. 881.


Sehr geehrter Herr Wandel!

Neulich nach der Versammlung in der Behrenstraße entdeckte ich zu meiner Freude, daß Sie an der Schulfarm Insel Scharfenberg, die nach einem H.J.-Interregnum mit 70 Volksschülern schon fröhliche Urständ feiern konnte, nicht uninteressiert sind.

Sie zogen in Ihrem Referat an jenem Morgen eine Parallele zwischen Boden- und Schulreform und wünschten dieser nun auch die Verwirklichung langgehegter Ideen in die Breite. Ich halte mich für verpflichtet und in gewissem Sinne beinahe für berechtigt, an einer noch engere Zusammengehörigkeit der beiden Bewegungen zu erinnern.

Schon nach dem ersten Weltkrieg wandte ich mich an das [preußische Kultus-] Ministerium [unter Minister Konrad] Haenisch und den Staatssekretär Krüger im Landwirtschaftsministerium, einen Konabiturienten von mir, mit dem ausführlich begründeten Vorschlag, zur Ausbreitung der Schulfarmidee Schlösser mit Landareal zu beschlagnahmen oder von größeren Domänen etwas abzuzweigen. Leider hat keiner zugepackt; auch die Beziehungen meiner damaligen Hauptmitarbeiterin Dr. Elisabeth Rotten, Gründerin des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung, und meiner unverwüstlichen Helferin Klara Weyl reichten nicht aus, jene sprichwörtliche Zaghaftigkeit zu überwinden.

Heute bieten sich solche Gelegenheiten noch ungesuchter und zahlreicher; denn wahrscheinlich stehen Restgütchen, bestimmt aber leergewordene geräumige Gutshäuser inmitten großer Gartenanlagen zur Verfügung - die beste und einfachste Möglichkeit, Schulgemeinschaften im Sinne Scharfenbergs einzurichten, das heißt:

Arbeit des Geistes organisch mit der der Hand zu verbinden, städtische Jugend aus dem Milieu der Trümmer und Ansteckungsherde in eine Umgebung zu bringen, die Körper und Geist gesunden läßt, sie mehr als sonst möglich den Infektionen des früheren Regimes zu entziehen, bei richtiger freierer Lehrerauswahl in kleinen Kollegien Keimzellen für das Heranbilden eines neuen Lehrerstandes zu schaffen, die uns so bitter und so eilig nottun. Statt der Schulungskurse nach nationalsozialistischem Vorbild würden hier das Zusammenleben in wirklichen Schulgemeinschaften, das ungeschminkte Zusammensein mit der Jugend, das Untertauchen in all die Schönheiten und Schwierigkeiten solcher pädagogischen Provinzen wirklich überzeugte und in der Pionierarbeit erprobte Erzieher schaffen, die nach meinen Erfahrungen in der Junglehrerausbildung im früheren Scharfenberg sogar in den üblichen Pennen die Jugend für sich gewinnen, die unvermeidliche Schulverdrossenheit der Oberstüfler vertreiben und die bisher neutralen Teile der Kollegien durch Erfolg und Beispiel revolutionieren können. Außerdem könnten die Söhne der Bodenreformteilhaber den Unterricht dieser Schulfarmen als Externe mitmachen und diese selbst kleine Kulturzentren für ihre Eltern werden.

Ich breche ab... Nur zweierlei noch, das eine fast überflüssig, das andere im Augenblick Dringendste!

Auf die Sonderheit der Schulfarmform hinzuweisen, wäre das eine: Sie ist kein Landerziehungsheim im Lietz-Wynekenschen Sinne; denn sie sucht ihre Schüler bewußt in den armen und ärmsten Schichten; sie ist keine Fürstenschule im Sinne Schulpfortas, die sich von dem Ernteanfall des Dominiums erhalten lassen. Ihre Insassen sollen das, was zu ihrer Ernährung gehört, nicht passiv hinnehmen, sei es aus den hohen Zuschüssen der Eltern, sei es aus dem, was der Administrator ihnen schickt -, sondern es sich selbst erarbeiten, woraus sich neben einem neuen Ethos der Arbeit ein stipendienfreies Selbstbewußtsein entwickelt und gleichzeitig akademischer Bildungshochmut, intellektuelle Abkapslung vermieden wird. Und das zweite augenblicklich dringende? Die Ställe der Inselschulfarm sind dank der Unvernunft der Interregnumsleute leer; sie trägt also ihren Namen nur zum Schein! Es fehlen zwei Pferde zum Landbestellen und zum Transport, es fehlen 2 Kühe zur Milcherzeugung für die untergewichtigen Neulinge, es fehlen ein paar Läuferschweine zur Erneuerung der Zucht, wozu Futter vorhanden ist! Wir Schulfarmer wagen es, allem Schein abhold, die Zentralverwaltung zu fragen, ob sie uns durch die Beziehungen zur russischen Verwaltung in dieser Beziehung nicht helfen kann. Die einstige Schulfarm ist entstanden im Kampf mit einem reaktionären Stadtschulkollegium als secessio plebis in insulam; die Stadtverordneten haben sich erst zu interessieren begonnen, als die Farm schon blühte und von sich reden gemacht hatte.

Zum zweiten Mal kann so viel Zeit und Kraft auf äußere Schwierigkeiten nicht verwandt werden; dann wäre der Moment zur fortzeugenden Weiterentwicklung verpaßt; dann könnte sie erst nach Jahren den stabilen Stand erreichen, der Junglehrer anzuziehen und sie zu Sendlingen für Tochtergründungen weiter draußen im Land auszubilden vermöchte! Daran hängt zum Teil also auch das Sichfinden von Boden- und Schulreform.


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